„Europa rüstet auf“ – Europa sucht Wege zur „strategischen Autonomie“ – „Europäischer Verteidigungsrat“ als Alternative zur Nato – Aufbau einer eigenen Sicherheitsarchitektur.
Angesichts der russischen Bedrohung und des Kurswechsels der amerikanischen Außenpolitik diskutiert Europa die Notwendigkeit einer Erhöhung der nationalen Rüstungsausgaben und den Aufbau eigener europäischer Streitkräfte.
Der Gedanke ist nicht neu. 1952 schrieb Wilhelm Kaisen in einem Exposé zur außenpolitischen Lage: „Es gibt keinen anderen Weg, als dem Westen zu helfen, damit Europa stärker wird. Nur so sichern wir den Frieden und nur so unterstützen wir die Kräfte, die ein Zurückweisen Russlands bewirken.“ Gemeint war der von Wilhelm Kaisen befürwortete Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mit einem eigenen Wehrbeitrag.
Nach Beginn des Koreakrieges hatte die US-amerikanische Regierung von den Europäern ein stärkeres Engagement zur Verteidigung des „freien Westen“ gefordert. Der französische Außenminister René Pleven hatte in der Folge 1950 die Schaffung einer gemeinsamen integrierten europäischen Armee vorgeschlagen: multinationale Einheiten, kleine Kontingente der beteiligten Staaten unter einem multinationalem Generalstab. Der Beitritt der Bundesrepublik zur EVG war in Deutschland nicht unumstritten. Wie Konrad Adenauer, so sah jedoch auch Wilhelm Kaisen einen deutschen „Wehrbeitrag“ im Rahmen eines westlichen Militärbündnisses angesichts der Bedrohung der „freien Welt“ durch die Sowjetunion als unausweichlich. Nur mit einer „groß angelegten Defensivanstrengung des Westens“ könne die europäische Sicherheit gestärkt und die westeuropäische Einigung gefördert werden. Alles andere sei „politischer Selbstmord“.
Am 27. Mai 1952 schlossen Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederlande, Italien und die Bundesrepublik Deutschland den Vertrag zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Als der Bundestag ein Jahr später die deutsche Ratifizierung der Vertragswerkes diskutierte, verweigerte die oppositionelle SPD ihre Zustimmung. Wilhelm Kaisen hatte damals ebenfalls gegen die Ratifizierung gestimmt, nicht jedoch aus grundsätzlichen Erwägungen, sondern aus verfahrensmäßigen Vorbehalten. In der Sache war er weiterhin bei seiner Zustimmung zur EVG geblieben. Noch im Juni 1954 forderte er vor Vertretern der Auslandspresse in Bremen, „dass sich die Völker Europas zur Verteidigung der Freiheit zusammenschließen müssten“.
Dann lehnte am 30. August 1954 die französische Nationalversammlung – jetzt waren die Gaullisten an die Macht gekommen – die Ratifizierung des EVG-Vertrages ab. Die EVG und damit die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee war gescheitert. Wilhelm Kaisen war enttäuscht, wurde aber nicht müde, weiterhin für eine von ihm vertretene europäische Sicherheitsstruktur zu werben. Ein Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Mit den Pariser Verträgen vom 23. Oktober 1954 wurde die Bundesrepublik als souveräner Staat unter Einbeziehung in das System der gegenseitigen militärischen Hilfeleistung in die Westeuropäische Union (WEU) aufgenommen und gleichzeitig Mitglied der NATO. Als Berichterstatter des Auswärtigen Ausschusses setzte sich Wilhelm Kaisen ein Jahr später für die Zustimmung des Bundesrats zu den Pariser Verträgen ein, die dann vor 70 Jahren, am 18. März 1955, auch erfolgte.
Wilhelm Kaisen als Europäer – ein Beispiel für heute?
Text: H. Müller
Bild: Wilhelm Kaisen und Konrad Adenauer nach der Zustimmung des Bundesrats zu den Pariser Verträgen am 18. März 1955