In der Küche des Wohnhauses steht Wilhelm Kaisens Ohrensessel. An der Wand dahinter hängt ein Foto, das ihn in diesem Sessel zeigt. Wilhelm Kaisen trägt einen dunklen Anzug. Seinen Hut hat er neben sich abgelegt. Gewöhnlich findet man ihn hier in seiner Strickjacke, wie er die Zeitung liest und Gespräche mit seiner Familie führt. Doch heute, es ist der 17. Juli 1965, ist alles anders, denn Wilhelm Kaisen wird in etwa einer Stunde als Senatspräsident und Bürgermeister im Rathaus verabschiedet. Die Zeit drängt. Draußen wartet schon der Fahrer mit dem Mercedes. In der Oberen Rathaushalle versammeln sich bereits die ersten Gäste aus Politik und Wirtschaft, die Weggefährten und Freunde Wilhelms. Heinrich Lübke und Willy Brandt sind auf dem Weg. Wilhelm wird von Willy Dehnkamp die Bremer Ehrenmedaille in Gold und die Auszeichnung „Ehrenbürger der Stadt Bremen“ überreicht bekommen. Dann wird der Bundespräsident seine Ansprache halten. Zuletzt kommt Wilhelms Abschiedsrede.
Was geht in Wilhelm vor? Möchte er am liebsten sagen: „Nun macht doch nicht so viel Aufhebens um mich“? Oder kreisen seine Gedanken um die Worte, die er am Schluss seiner Abschiedsrede an die Politiker richten will? Er will ihnen zurufen: „Sage freimütig deine Meinung! Halte die Nachbarn zu Freunden! Schütze den Frieden! Gebt gleiches Recht für alle, auch den Geringsten und den Armen. Hört auch den anderen Teil!“*
Vielleicht ist Wilhelm aber auch bereits ganz in Gedanken um den morgigen Tag, den Tag danach. Denn von nun an wird er sich voll und ganz seiner Familie und der Arbeit auf seinem Hof widmen, frei von politischer Verantwortung und politischen Verpflichtungen.
* Zu sehen und zu hören unter Berichte vom Tage (17. Juli 1965) bei NDR-Retro
Carsten Böning wohnt in Borgfeld. Er betreut die Geschäftsstelle der Wilhelm und Helene Kaisen-Stiftung und zeigt Interessierten die Dokumentationsstätte im Rahmen von Führungen und an Öffnungstagen.