Am 22. Januar 1963 unterzeichneten Kanzler Adenauer und Präsident de Gaulle den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag im Élysée-Palast. Der Vertrag markiert einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Versöhnung beider Länder nach dem 2. Weltkrieg. Anlässlich dieses historischen Datums vor 60 Jahren hat sich Stiftungsmitglied Dr. Hartmut Müller mit der Entwicklung befasst, die diesem Vertrag voraus ging.
Zu den frühen Vorreitern der deutsch-französischen Aussöhnung gehörte auch Wilhelm Kaisen. Vom 4. bis zum 14. März 1951 besuchte er als einer der ersten hochrangigen politischen Amtsträger der Bundesrepublik Deutschland Frankreich. Der Besuch erfolgte auf Einladung des französischen Hochkommissars in Deutschland, André François-Poncet, der ein Jahr vorher in Bremen im Zeichen der deutsch-französischen Verständigung an der Contrescarpe ein französisches Kulturzentrum eröffnet hatte. Kaisen hatte diese, wie er beim Senatsempfang für François-Poncet ausdrücklich ausgeführt hatte, als Grundlage der europäischen Zusammenarbeit und als Kernstück eines zukünftigen europäischen Staatenbundes bezeichnet.
Die Reise nach Frankreich habe er immer wieder zurückgestellt, berichtete er später vor der Bremischen Bürgerschaft. Einmal aus Zeitmangel, dann aber auch, weil sie ihm als ein Wagnis erschienen sei:„Stellen Sie sich vor, Sie würden plötzlich vor die Entscheidung gestellt werden, französische Politiker zu besuchen. Nach alldem, was sich im Laufe der Zeit zwischen den beiden Nationen ereignet hat … werden Sie sich in diesem Falle gewiss Gedanken darüber machen, wie man Sie wohl in Paris aufnehmen wird.“
Schnell hatte sich gezeigt, dass die Einladung, die ursprünglich einem Besuch in Bordeaux und Paris gegolten hatte, nicht ganz unproblematisch gewesen war. In Bordeaux war gerade ein führender Weinproduzent wegen seiner zweifelhaften Geschäfte mit dem deutschen „Beauftragten für den Weinimport“, dem Bremer Heinz Bömers, und der Kollaboration mit der deutschen Besatzung verurteilt worden. In Bordeaux gäbe es momentan „une certaine effervescence“, eine gewisse Unruhe, hatte man Kaisen mitgeteilt, und es sei besser, sich diese erst legen zu lassen. Der Besuch in Bordeaux war damals gestrichen und auf Paris begrenzt worden.
In Paris, wohin Kaisen von seiner Frau Helene, dem späteren Bundespräsidenten Karl Carstens sowie seinem aus dem Elsass stammenden Presssprecher Alfred Faust begleitet worden war, standen politische Gespräche mit dem französischen Außenminister Robert Schumann und führenden Mitgliedern der Sozialistischen Partei über den Schumann-Plan und die mit diesem angestrebte Einigung Europas, die Gründung der Montan-Union und die Frage des Saarstatuts, im Vordergrund.
Ergänzt wurden die Gespräche durch Besuche kommunaler Einrichtungen in der Pariser Arbeitervorstadt Boulogne-Billancourt sowie der im Krieg besonders zerstörten Städte Rouen und Le Havre, wo Kaisen mit Vertretern der Hafenbehörden und Hafenwirtschaft zusammentraf. Ein eher touristischer Ausflug im Wagen führte die Bremer Gäste schließlich zur Kathedrale nach Chartres, nach Tours sowie zum Besuch der Schlösser an die Loire.
„Herr Kaisen hat einen starken persönlichen Erfolg gehabt“, resümierte später der Generalkonsul der Bundesrepublik in Paris, Dr. Hausenstein, in einem Vermerk über die Frankreichreise Kaisens. In Paris hatte man ihm für seine Verdienste betreffend die deutsch-französische Verständigung die Medaille der Vereinigung der Bürgermeister von Frankreich sowie die Medaille des Departements De La Seine verliehen, und François-Poncet schrieb ihm nach seiner Rückkehr nach Bremen, er sei davon überzeugt, dass das gegenseitige Kennenlernen im Verlauf der Reise eine dauerhafte und ersprießliche Auswirkung auf die Beziehungen ihrer beider Länder haben werde.
„Es war keine bequeme Reise“, berichtete Wilhelm Kaisen später. Da waren die vielen Besprechungen und Besichtigungen, „Tag für Tag von früh bis spät.“ Und da waren auch die vielen Essen: „Wir mussten auf unserer Reise fast täglich an irgendeinem offiziellen Essen teilnehmen.“ Das Essen – „oder wie man sagt das Souper – sei eine der wichtigsten Einrichtungen im französischen Leben.“ Und dann war es passiert: „Zum ersten Mal habe ich gewagt, um nicht unhöflich zu sein, Weinbergschnecken und Seeigel zu essen. Das kostete mich starke Überwindung. Ich bin ein guter Bremer und handle nach dem Sprichwort: ‚Wat de Buer nich kennt, dat fritt he nicht!‘ Ich konnte es aber nicht verhindern, dass man mir eine solche Mahlzeit servierte, und ich musste dann diese wabbelige Masse zu mir nehmen.“ Dank der Zubereitung habe es dann doch nicht schlecht geschmeckt.
Nach einem Zwischenstopp in Bonn, wo er der sozialdemokratischen Parteispitze und Kanzler Konrad Adenauer von seiner Reise berichtete, kehrten Wilhelm und Helene Kaisen am 15. März 1951 wieder nach Borgfeld zurück, beeindruckt von der Freundlichkeit, der menschlichen Wärme und dem guten Willen, mit dem man ihnen überall in Frankreich begegnet war. Eine Erfahrung, die Wilhelm Kaisen Mut gemacht hat, auf seinem Weg zu einem ausgesöhnten Europa weiter voran zu schreiten.
Das Foto zeigt Kaisen zusammen mit André François-Poncet 1950 vor dem Bremer Rathaus.